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Ikigai – Warum dieses japanische Wort dein Leben verändern könnte

  • Autorenbild: Manuel Strebl
    Manuel Strebl
  • 8. Juni
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Juni

Was treibt dich an – jenseits von Karriere, Konsum und dem ständigen Streben nach Selbstoptimierung? In Japan gibt es ein Wort für genau diese Frage: Ikigai. Ein Konzept, das dem Alltag Sinn verleiht – und kulturelle Weisheit mit moderner Psychologie verbindet.


In diesem Beitrag erfährst du, woher Ikigai stammt, was es wirklich bedeutet – und wie du es für dich entdecken kannst.

Visualisierung des Ikigai-Modells: Vier überlappende Kreise, die zeigen, wie Leidenschaft, Berufung, Mission und Beruf zum Lebenssinn führen – ein zentrales Konzept der japanischen Lebensphilosophie.


Ursprung und kulturelle Bedeutung von Ikigai


Ikigai (japanisch 生き甲斐) lässt sich frei übersetzen als „das, wofür es sich zu leben lohnt“ – also das, was dem Leben Freude, Sinn und Ziel gibt. In Japan ist Ikigai ein alltäglicher Begriff, der keineswegs nur für die große Lebensvision reserviert ist. Oft wird er sogar scherzhaft benutzt: So mag etwa ein japanischer Büroangestellter nach Feierabend mit einem zufriedenen Seufzer sagen: „Ah, dieses Bier ist mein Ikigai. Diese Gelassenheit zeigt: Ikigai muss nichts Großes oder Weltbewegendes sein. Es kann sich um kleine alltägliche Freuden handeln – von der ersten Tasse Kaffee am Morgen bis zum Hobby, das uns erfüllt.


Wörtlich besteht das Wort Ikigai aus iki („Leben“) und gai („Wert“ oder „Nutzen“). Es geht also um den Wert des Lebens an sich, um Dinge, die das Leben lebenswert machen. Wichtig ist dabei, dass Ikigai in Japan eher auf den Alltag bezogen wird (seikatsu), nicht nur auf die gesamte Lebensspanne (jinsei). Anders gesagt: Ikigai steckt oft in den täglichen Aktivitäten und Beziehungen.


Historisch reicht der Begriff weit zurück (erste Erwähnungen gab es bereits im 14. Jahrhundert), doch seine heutige Bedeutung für persönliche Lebensfreude entwickelte sich vor allem seit den 1960er Jahren, als in Japan ein wahrer „Ikigai-Boom“ an Ratgeberbüchern einsetzte.


Ikigai ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Traditionell wird die Suche nach dem Lebenssinn und Selbstverwirklichung in Japan hoch geschätzt. Die japanische Medienlandschaft diskutiert bis heute, was alles als Ikigai gelten kann und wie (oder ob) Menschen bei der Sinnsuche angeleitet werden sollten. Spannend ist, dass der Ikigai-Begriff lange Zeit sowohl individuelles Glück als auch den Beitrag zur Gemeinschaft umfasste. So bezeichnete man zu früheren Zeiten sogar patriotische Ziele oder Pflichten als Ikigai – bis hin zu dem, „wofür es sich zu sterben lohnt“ (shinigai) in der Vorkriegszeit. Nach dem Krieg wandte sich die Bedeutung jedoch dem persönlichen Lebenssinn zu. Seit den 1980ern wird Ikigai in Japan populär mit Themen wie Work-Life-Balance, neuer Spiritualität und persönlicher Entwicklung in Verbindung gebracht.


Kurzum, Ikigai ist in Japan nichts Exotisches, sondern Teil des alltäglichen Denkens und Sprechens. Es bedeutet für jeden etwas Individuelles. Für viele Japaner ist es ganz selbstverständlich, eine Antwort auf die Frage zu haben, “Was gibt deinem Leben Wert?“ – sei es die Familie, ein Hobby oder der Beitrag zur Gemeinschaft. Gerade bei der älteren Generation sieht man, wie Ikigai das Leben bereichern kann: In Okinawa etwa, einer Region mit besonders vielen Hundertjährigen, ist es üblich, auch im hohen Alter einer erfüllenden Tätigkeit nachzugehen. In einem kleinen Dorf namens Ogimi gaben befragte Senioren auf die Frage nach ihrem Ikigai konkrete Antworten wie Freunde, Gartenarbeit oder Kunst. Dieses “Warum stehe ich morgens auf?” – ob es nun die Enkelkinder sind, das tägliche Tee-Ritual oder ehrenamtliche Arbeit – hält die Menschen dort geistig und körperlich aktiv.


Moderne Interpretation und Anwendung


In den letzten Jahren hat Ikigai auch im Westen große Aufmerksamkeit erlangt. Auslöser war unter anderem das Buch „Ikigai: The Japanese Secret to a Long and Happy Life“ (2016), das zum internationalen Bestseller wurde. Seither ist Ikigai zum Schlagwort in Coaching, Karriereplanung und persönlicher Entwicklung geworden. Dabei hat sich eine bestimmte Visualisierung des Konzepts eingebürgert: das berühmte Ikigai-Venn-Diagramm.


Das Ikigai-Diagramm: Vier überlappende Bereiche – Leidenschaft (was du liebst), Mission (was die Welt braucht), Berufung (worin du gut bist) und Profession (wofür du bezahlt werden kannst) – markieren den Schnittpunkt, der dein Ikigai ausmachen könnte. Dieses populäre Schaubild wurde 2014 von einem westlichen Autoren entwickelt und fand weltweit Verbreitung. Es dient als praktisches Werkzeug, um den eigenen “Sweet Spot” aus Interessen, Begabungen und Werten zu finden. In der Mitte – dort, wo sich alle vier Kreise überschneiden – liegt nach dieser Interpretation das persönliche Ikigai, also eine Tätigkeit oder Lebensaufgabe, in der Leidenschaft, Sinn, Können und finanzielles Auskommen vereint sind.


Dieses Modell ist attraktiv, weil es greifbar macht, worüber wir oft diffus nachdenken: „Was soll ich mit meinem Leben anfangen?“ Durch die vier Fragen (Was liebe ich? Worin bin ich gut? Was braucht die Welt? Wofür kann ich bezahlt werden?) wird das abstrakte Thema greifbar. Viele Coaches und Ratgeber nutzen das Diagramm, um Menschen bei Berufsentscheidungen oder einer Lebensneuorientierung zu helfen. Es bietet eine strukturierte Reflexion: Manchmal erkennt man z.B., dass das geliebte Hobby vielleicht doch mehr als nur Hobby sein könnte – oder dass man im Beruf Fähigkeiten ungenutzt lässt, die einem eigentlich am Herzen liegen.


Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass Ikigai mehr ist als diese vier Kreise. Japanische Experten betonen, dass das populäre Diagramm eine Vereinfachung darstellt. In Wirklichkeit muss nicht jedes Ikigai alle vier Bereiche gleichermaßen abdecken. Oft erfüllt schon eine Kombination von zwei oder drei Bereichen unser Leben mit Sinn. So schrieb Héctor García, der Autor des genannten Bestsellers, dass es schwierig sein kann, alle Kategorien perfekt zu erfüllen – aber schon das Bewusstsein darüber kann helfen, das eigene Ikigai zu vertiefen. Zum Beispiel könnte jemand, der für sein Leben gern kocht und darin richtig gut ist, feststellen, dass „Kochen“ sein Ikigai ist – auch wenn er damit kein Geld verdient, sondern nur im Freundeskreis andere damit glücklich macht.


Entscheidend ist, dass man etwas tut, was einen innerlich antreibt und anderen Nutzen oder Freude bringt. Einige Kritiker warnen davor, Ikigai nur auf Beruf und Erfolg zu reduzieren. In Japan schwingt mit Ikigai auch la joie de vivre – die Freude am Dasein – mit. Es kann ebenso im einfachen Leben liegen, z.B. darin, Zeit mit den Enkeln zu verbringen oder jeden Tag den Sonnenaufgang zu genießen. Das bekannte Diagramm ist daher als Hilfsmittel zu verstehen, nicht als endgültige Definition. Es lädt dazu ein, über vier wichtige Lebensaspekte nachzudenken – die kulturelle Tiefe des Ikigai-Begriffs geht jedoch darüber hinaus. Letztlich zählt, was es für dich persönlich bedeutet.


Was die Psychologie sagt


Die Idee, einen tieferen Lebenssinn zu haben, klingt inspirierend – doch lässt sie sich auch wissenschaftlich untermauern? Tatsächlich ja. Psychologische Studien und Theorien unterstützen die Annahme, dass ein empfundenes “Warum” im Leben erheblich zu Wohlbefinden und sogar Gesundheit beitragen kann.


Eine vielbeachtete Langzeitstudie in Japan ergab einen direkten Zusammenhang zwischen Ikigai und Langlebigkeit. Über 43.000 Erwachsene wurden darin über sieben Jahre begleitet. Das Ergebnis: Von den Teilnehmern, die angaben, einen Lebenssinn (Ikigai) zu haben, lebten nach sieben Jahren noch 95 %, während in der Gruppe ohne Ikigai nur 83 % überlebten.


Mit anderen Worten: diejenigen ohne Ikigai hatten ein deutlich erhöhtes Sterberisiko. Besonders auffällig war, dass das Fehlen von Ikigai vor allem mit einer höheren Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen einherging – Krankheiten also, die oft mit Stress und Lebensstil zusammenhängen. Natürlich garantiert Ikigai kein ewiges Leben und ist keine magische Immunisierung gegen Krankheiten. Doch die Ergebnisse legen nahe, dass das Gefühl, einen Lebenssinn zu haben, messbare positive Effekte auf die Gesundheit haben kann. Ergänzende Untersuchungen deuten an, dass Menschen mit einem starken Zweck im Leben im Durchschnitt gesündere Entscheidungen treffen, weniger Stresshormone ausschütten und im Alter geistig aktiver bleiben.


Auch abseits der reinen Lebenszeit zeigt Ikigai Wirkung. So hat eine japanische Untersuchung festgestellt, dass Senioren, die im Rentenalter einer Tätigkeit aus innerer Berufung (also ihrem Ikigai folgend) nachgehen, länger ihre körperliche und geistige Fitness erhalten als solche, die nur aus finanzieller Notwendigkeit weiterarbeiten. Konkret hatten Letztere ein 1,55-mal höheres Risiko, innerhalb von zwei Jahren an Alltagskompetenz einzubüßen. Diese Zahlen untermauern, was im Kern einleuchtet: Wer etwas tut, das ihm Sinn gibt, bleibt aktiver, motivierter und gesünder. Der berühmte Neurologe und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl brachte es so auf den Punkt: Nicht das Streben nach einem spannungsfreien Leben macht uns gesund, „sondern das Streben und Kämpfen für ein Ziel, das uns würdig ist.“ Ikigai liefert genau ein solches lohnendes Ziel – sei es groß oder klein.


Auch die Positive Psychologie – die Wissenschaft vom gelingenden Leben – liefert Erklärungen für die Ikigai-Wirkung. Sie unterscheidet zwischen hedonischem Glück (Vergnügen, Spaß im Moment) und eudaimonischem Glück, das aus Sinn, Erfüllung und dem Ausleben eigener Werte entsteht. Ikigai fällt klar in die zweite Kategorie: Es entspricht dem, was die antiken Philosophen Eudaimonie nannten – ein Leben, das als sinnerfüllt und “gut gelebt” empfunden wird. Menschen mit Ikigai berichten oft von einem anhaltenden Wohlgefühl, das über momentane Freuden hinausgeht. Es beinhaltet die “Freude, lebendig zu sein”, wie es im Japanischen heißt.


Ein weiterer bekannter Begriff der Psychologie ist der Flow-Zustand, beschrieben vom Psychologen Mihály Csíkszentmihályi. Flow meint das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit – die Zeit scheint zu verfliegen, man ist fokussiert und fühlt sich am Höhepunkt seiner Fähigkeiten. Interessanterweise weist Ikigai große Überschneidung mit Flow auf. Wenn du etwas tust, das du liebst und sehr gut kannst, und womöglich dabei noch anderen einen Nutzen bringst, dann erlebst du häufig solche Flow-Momente. Csíkszentmihályi sagte: Die besten Momente im Leben treten meist dann auf, „wenn Körper oder Geist eines Menschen an ihrer Grenze arbeiten, um etwas Schwieriges und Wertvolles zu erreichen“. Genau dieses Gefühl – sich einer Herausforderung hingeben, die einen erfüllt – ist oft Kernbestandteil von Ikigai. Wer sein Ikigai lebt, berichtet nicht selten von tiefem Konzentrationsglück und dem Gefühl von „im Fluss sein“ bei der Tätigkeit.


Auch therapeutisch wird diese Erkenntnis genutzt: In der Verhaltenstherapie beispielsweise ermutigt man depressive Patienten, sich wieder Aktivitäten zuzuwenden, die Freude bereiten und ein Gefühl von Kompetenz vermitteln. Solche Aktivitäten können einen Weg aus der Antriebslosigkeit weisen. Ikigai vereint genau diese beiden Elemente – Freude und Sinn – und kann so als präventives “Antidepressivum” im Lebensstil wirken.


Zudem hat Ikigai oft einen sozialen Aspekt. In Japan wird betont, dass Ikigai nicht völlig losgelöst von der Gemeinschaft gedacht ist. Oft entspringt Sinn genau daraus, dass wir etwas beitragen. Ob es darum geht, für die Familie da zu sein, anderen durch den Beruf zu helfen oder ein Hobby mit anderen zu teilen – Ikigai hat meist eine soziale Komponente. Psychologisch wissen wir, dass altruistisches Verhalten und das Gefühl, gebraucht zu werden, die Lebenszufriedenheit enorm steigern können. Ikigai verbindet im Idealfall das persönliche Glück mit dem Wohlergehen anderer. Dieses „Zweck für sich selbst und andere“ erklärt, warum es so nachhaltig erfüllend ist.


Beispiele: Wie Menschen ihr Ikigai fanden


Theorie ist das eine – aber wie sieht Ikigai im echten Leben aus? Schauen wir uns ein paar Beispiele an, die zeigen, wie unterschiedlich Ikigai sein kann:


  • Der Sushi-Meister: Der Sushi-Meister: Jiro Ono, einer der berühmtesten Sushi-Köche Japans, gilt als Inbegriff gelebten Ikigai. Sein Leben lang hat er daran gearbeitet, die Zubereitung von Sushi zur Perfektion zu bringen. In der preisgekrönten Dokumentation „Jiro Dreams of Sushi“ erklärt der über 90-jährige Ono: „Man muss sich in seine Arbeit verlieben… widme dein Leben der Meisterung deines Fachs… Ich versuche immer weiter, die Spitze zu erreichen, aber niemand weiß, wo die Spitze ist.“ Dieses Zitat verkörpert Ikigai als niemals endende Leidenschaft und Streben nach Exzellenz. Jiro Onos Ikigai liegt nicht nur im Sushi-Machen an sich, sondern auch darin, seinen Gästen ein unvergessliches Erlebnis zu bereiten. In seinem kleinen 10-Plätze-Restaurant beobachtet er genau, wie die Kunden reagieren, und passt sogar die Sushi-Stücke individuell an. Sein Ikigai ist somit zweifach: die Liebe zur Sushi-Kunst und die Freude, anderen Genuss zu schenken.


  • Die Forscherin und Naturschützerin: Ein ganz anderes Beispiel bietet Jane Goodall, die weltbekannte Primatologin. Schon als Kind liebte sie Tiere, insbesondere Affen. In ihren Zwanzigern folgte sie dieser Leidenschaft und reiste nach Afrika, um Schimpansen in freier Wildbahn zu studieren. Ohne klassische Ausbildung begann sie – unterstützt vom Anthropologen Louis Leakey – Verhaltensforschung, die das Verständnis von Menschenaffen revolutionierte. Goodall vereinte in ihrem Lebensweg alle vier Ikigai-Bereiche: Sie tat, was sie liebte (mit Tieren arbeiten), sie entwickelte außergewöhnliche Fähigkeiten darin, Tiere zu beobachten und zu verstehen, sie erfüllte ein weltweites Bedürfnis nach Wissen und Naturschutz, und sie machte dies schließlich zu ihrem Beruf (über Bücher, Vorträge und ihre Position als Forscherin). Ihr Ikigai könnte man beschreiben als “Verbindung zu den Tieren und Einsatz für die Natur”. Bis heute reist Jane Goodall unermüdlich umher, hält Vorträge zum Artenschutz und inspiriert Menschen – offensichtlich getragen von einem starken Sinngefühl.


  • Der Surfer mit Mission: Ein moderner Ikigai-Finder ist Dave Rastovich, ein australischer Profi-Surfer. Sein größtes Glück ist das Surfen; stundenlang ist er in den Wellen – oft begleiten ihn Delfine dabei. Aus dieser Liebe zum Meer und seinen Lebewesen hat Rastovich sein Ikigai entwickelt: Er gründete die Organisation “Surfers for Cetaceans”, um Wale und Delfine zu schützen. Er nutzt also seine Leidenschaft und Bekanntheit im Surfsport, um etwas zurückzugeben. Sein Leben dreht sich darum, im Flow der Wellen zu sein und gleichzeitig Meeresbewohner vor Gefahren wie Jagd oder Verschmutzung zu bewahren. Hier zeigt sich, wie Ikigai auch ein aktivistisches Element haben kann – die eigene Erfüllung geht Hand in Hand mit einem positiven Einfluss auf die Welt.


  • Alltägliche Ikigai-Geschichten: Ikigai ist jedoch nicht nur bei berühmten Persönlichkeiten zu finden. Jeder Mensch kann – und hat vermutlich – sein eigenes Ikigai, auch wenn es auf den ersten Blick unspektakulär wirkt. Denken wir an die 91-jährige Bäuerin in Okinawa, die jeden Tag noch aufs Feld geht, weil es sie mit Freude erfüllt und ihr das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Oder an den Rentner, der als freiwilliger Chorleiter im Gemeindezentrum tätig ist, weil Musik seine Leidenschaft ist und er so Gemeinschaft stiftet. Es kann die junge Mutter sein, die in der Erziehung ihrer Kinder aufblüht und darin ihren Sinn sieht. Oder der Software-Entwickler, der tagsüber seinen Job macht, aber nach Feierabend in einem Open-Source-Projekt programmiert, das Menschen auf der ganzen Welt hilft – und darin seine wahre Erfüllung findet. Ikigai ist so individuell wie die Menschen selbst. Wichtig ist weniger, was es konkret ist, sondern dass es sich für denjenigen bedeutungsvoll anfühlt. Japanische Autoren betonen, dass jeder Mensch sein Ikigai hat – es zu entdecken ist manchmal eine Herausforderung, aber eine lohnende.


Warum Ikigai? – Mehrwert für Sinnsuchende


Für Menschen, die sich mit Fragen nach ihrer Lebensvision, Berufung oder einer Neuausrichtung beschäftigen, bietet Ikigai einen klaren Mehrwert. Das Konzept dient als eine Art Kompass, der unterschiedliche Bereiche des Lebens in Einklang bringt. Wer vor einer beruflichen oder persönlichen Entscheidung steht, kann durch Ikigai einen Leitfaden finden: Anstatt nur zu fragen „Womit verdiene ich (mehr) Geld?“ oder „Was macht mir Spaß?“, stellt man umfassendere Fragen, die Herz, Verstand und Umwelt einbeziehen. Gerade für Sinnsuchende, die nicht einfach einem konventionellen Karrierepfad folgen möchten, liefert Ikigai eine ganzheitliche Perspektive: Was erfüllt mich innerlich? Wie kann ich meine Talente nutzen? Wo werde ich gebraucht? Und wie kann ich davon leben? Diese Reflexion kann helfen, Prioritäten neu zu ordnen und vielleicht ungeahnte Möglichkeiten zu erkennen.


Zudem wirkt Ikigai oft motivationsfördernd. Wenn wir ein klares „Wofür“ vor Augen haben, fällt es leichter, morgens mit Energie aufzustehen und Herausforderungen anzupacken. Man fühlt sich verbunden mit etwas, das größer ist als der eigene Alltagstrott. Das kann in Phasen der Neuorientierung enorm dabei helfen, Zweifel und Ängste zu überwinden. Studien zeigen, dass ein starkes Gefühl von Zweck und Sinn im Leben die Stimmung hebt und Resilienz fördert. Menschen, die ihr Ikigai kennen, berichten häufig von mehr Zufriedenheit und Stressresistenz. Kein Wunder: Wer spürt, dass er „am richtigen Platz“ ist oder sich auf dem Weg dorthin befindet, lässt sich von Rückschlägen weniger entmutigen.


Darüber hinaus kann Ikigai einen Balance-Effekt haben. Es berücksichtigt sowohl persönliche Erfüllung als auch Beitrag zur Gemeinschaft und materielle Grundlage. In einer Welt, die oft zwischen Extrempolen schwankt – Selbstverwirklichung versus Broterwerb, Idealismus versus Pragmatismus – schlägt Ikigai eine Brücke. Es ermutigt, nicht in entweder-oder zu denken, sondern ein sowohl-als auch anzustreben. Für Sinnsuchende ist das eine beruhigende Botschaft: Du darfst etwas wollen, was dich glücklich macht und was nützlich ist und wovon du leben kannst. Diese Ganzheitlichkeit ist ein großer Mehrwert, weil sie hilft, innere Konflikte aufzulösen.


Schließlich – wie wir gesehen haben – steigert ein gelebtes Ikigai nicht nur die Zufriedenheit, sondern kommt oft auch der Gesundheit zugute. Ein sinnzentriertes Leben kann Stress reduzieren, das Immunsystem stärken und möglicherweise sogar die Lebensdauer verlängern. Für Sinnsuchende, die vielleicht gerade eine Krise oder Umbruchphase durchmachen, kann das Wissen um diese positiven Effekte zusätzlich motivierend wirken: Der Einsatz, das eigene Ikigai zu finden, lohnt sich auf vielfältige Weise.


Finde dein Ikigai: Reflexionsfragen und Übungen


Am Ende stellt sich die Frage: Wie kannst du dein persönliches Ikigai entdecken? Dies ist eine sehr individuelle Reise, doch es gibt konkrete Methoden, die dir dabei helfen können. Manche Menschen bevorzugen offene Selbstreflexion, andere arbeiten gern mit strukturierten Übungen. Für dich als Leser:in von Lonely Trails – vermutlich jemand, der gerne reflektiert, aber auch praktische Impulse sucht – bietet sich eine Kombination aus beidem an. Im Folgenden findest du zuerst einige Fragen zur Selbstfindung und anschließend eine Übung, um deine Erkenntnisse greifbar zu machen. Nimm dir Zeit dafür, sei ehrlich und spielerisch zugleich. Es gibt kein Richtig oder Falsch – es geht um dich.


1. Selbstreflexion durch Fragen: Schnapp dir ein Notizbuch oder öffne ein leeres Dokument und denke über die folgenden Fragen nach. Schreibe frei drauflos, ohne dich selbst zu zensieren. Die Fragen orientieren sich an den vier Ikigai-Bereichen:


  • Was liebst du wirklich zu tun? (Bei welchen Tätigkeiten vergisst du die Zeit? Was hat dich schon als Kind fasziniert? Wobei spürst du Begeisterung und Herzblut?)


  • Worin bist du gut? (Welche Fähigkeiten oder Talente fallen dir leicht? Wofür bekommst du von anderen Komplimente oder Dank? Gibt es etwas, das du schneller lernst oder besser kannst als viele um dich herum?)


  • Was braucht die Welt (von dir)? (Welche Probleme, Bedürfnisse oder Chancen in deinem Umfeld oder der Gesellschaft bewegen dich? Wo könntest du – so klein es auch sei – einen positiven Unterschied machen? Welche Rolle oder Aufgabe erfüllst du gern im Leben anderer Menschen?)


  • Wofür könntest du bezahlt werden? (Überlege, mit welchen deiner Leidenschaften oder Fähigkeiten du prinzipiell Geld verdienen könntest. Gibt es Berufe, Projekte oder Geschäftsmodelle, die darauf aufbauen? Würden Leute dafür bezahlen, dass du genau das tust? Auch wenn Geld vielleicht nicht deine Hauptmotivation ist – hier kreativ zu denken eröffnet neue Möglichkeiten.)


Nimm dir ruhig ein paar Tage Zeit, um über diese Fragen zu sinnieren. Oft tauchen neue Erkenntnisse auf, wenn man den Gedanken etwas Raum gibt. Sprich auch gern mit vertrauten Menschen darüber – manchmal sehen andere unsere Stärken klarer als wir selbst.


2. Übung: Das Ikigai-Diagramm erstellen: Nachdem du nun allerlei Ideen gesammelt hast, kannst du diese in das klassische Ikigai-Diagramm einordnen. Das visuelle Bild hilft, Verknüpfungen zu erkennen. Gehe dabei in folgenden Schritten vor:


  1. Zeichne vier überlappende Kreise: Schnappe dir ein großes Blatt Papier (oder nutze ein Online-Tool) und zeichne ein Venn-Diagramm mit vier Kreisen, die sich in der Mitte alle überschneiden. Beschrifte die Kreise mit Leidenschaft (was du liebst), Mission (was die Welt braucht), Berufung (worin du gut bist) und Profession (wofür du bezahlt werden kannst) – analog zu den obigen Fragebereichen.


  2. Fülle die Kreise mit deinen Stichworten: Trage in jeden Kreis die wichtigsten Punkte ein, die du aus der Reflexion gewonnen hast. In den Kreis Leidenschaft kommen z.B. „Musik machen“, „in der Natur sein“, „kochen“, oder was immer du liebst. In Berufung schreibst du Fähigkeiten wie „organisieren“, „analytisch denken“, „Menschen zuhören können“ etc. Unter Mission notierst du Dinge, bei denen du Bedarf siehst oder Anliegen, die dir am Herzen liegen („Menschen gesünder machen“, „Kreativität in anderen wecken“, „Klimaschutz beitragen“…). In Profession liste mögliche Jobs, Einkommensquellen oder Geschäfts-Ideen auf, die mit den vorherigen Inhalten verknüpft sind („Yogalehrer“, „Buch schreiben“, „eigene Bäckerei eröffnen“, „Beratung anbieten“…). Erlaube dir zu träumen, aber bleibe auch ehrlich, was dich wirklich reizt.


  3. Suche nach Überschneidungen: Nun betrachte dein Diagramm: Wo überschneiden sich die Kreise? Gibt es Tätigkeiten oder Themen, die in mehreren Bereichen auftauchen? Markiere insbesondere die Schnittfelder in der Mitte, wo idealerweise Leidenschaft + Talent, Talent + Bedarf, Bedarf + Einkommen etc. zusammenkommen. Vielleicht erkennst du ein Muster oder eine konkrete Idee. Zum Beispiel könnte sich zeigen, dass du leidenschaftlich gern kochst (Leidenschaft), talentiert im Erklären bist (Berufung), andere sich gesunde Ernährung wünschen (Mission) und du dir vorstellen könntest, Kochkurse zu geben (Profession). Dieses fiktive Beispiel würde ziemlich genau die Mitte – also ein mögliches Ikigai – treffen. Häufiger ergibt sich nicht sofort das perfekte Überschneidungsding. Macht nichts: Nimm ernst, was du siehst. Vielleicht hast du 2–3 Bereiche, die stark leuchten, andere weniger. Das Diagramm soll dir Denkanstöße liefern.


  4. Experimentiere und priorisiere: Aus deinen Erkenntnissen gilt es nun, erste Schritte abzuleiten. Ikigai finden ist ein Prozess – du musst nicht von heute auf morgen dein ganzes Leben umkrempeln. Überlege, welche kleine Veränderung oder welcher Testballon sinnvoll wäre. Hast du z.B. gemerkt, dass dir im aktuellen Job der Aspekt „anderen helfen“ fehlt, könntest du ehrenamtlich aktiv werden, um dieses Bedürfnis zu erfüllen. Oder falls sich herauskristallisiert hat, dass Kreativität dein Herzensthema ist, du es aber zu wenig einbringst, plane dir bewusst Zeit dafür ein oder starte ein Nebenprojekt. Probiere Dinge aus, sammle Erfahrungen und Feedback. Das wird dir zeigen, ob du dich in die richtige Richtung bewegst. Manchmal findet man sein Ikigai erst durch Tun: indem du aktiv wirst, merkst du, was dich wirklich langfristig erfüllt oder was vielleicht doch nur eine vorübergehende Laune war.


Zum Schluss stellt sich die Frage, welche Herangehensweise sich für dich persönlich am besten eignet – eher die offene Selbstreflexion oder die strukturierte Übung. Meine Empfehlung: Nutze beide im Wechsel. Die Fragen öffnen dein Denken und Herz, das Diagramm bringt Ordnung und Klarheit. Viele Sinnsuchende profitieren von dieser Mischung, weil sie sowohl die intuitive Seite (Träume, Wünsche, Gefühle) anspricht, als auch die analytische (Pläne, Realitäten, nächste Schritte). Sollte dir ein Ansatz mehr liegen als der andere, ist das natürlich auch in Ordnung. Manche finden ihr Ikigai allein durchs Tagebuchschreiben und Nachdenken, andere durch handfeste Listen und Aktionspläne. Erlaube dir, den Weg so zu gestalten, wie er dir guttut.


Fazit


Ikigai zu finden ist keine esoterische Geheimlehre, sondern eine persönliche Reise, die jede:r antreten kann. Es erfordert Ehrlichkeit mit sich selbst und den Mut, neues auszuprobieren. Aber die Belohnung – ein Leben, das sich deins anfühlt, mit einem Grund, morgens motiviert aufzustehen – ist die Anstrengung wert. In der Hektik und Unsicherheit unserer modernen Welt kann das japanische Konzept Ikigai ein Anker sein, der dich immer wieder zurückführt zu der Frage: Was lässt dich lebendig fühlen? Die Spur dieses Gefühls zu verfolgen, führt dich Schritt für Schritt näher zu einem erfüllten, sinnvollen Leben. Viel Erfolg auf deinem eigenen einsamen Trail zum Ikigai!

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